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Titel
Georg Michaelis. Preußischer Beamter, Reichskanzler, Christlicher Reformer 1857-1936. Eine Biographie


Autor(en)
Becker, Bert
Erschienen
Paderborn 2007: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
892 S., 32 Abb.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Zilch, Arbeitsstelle "Preußen als Kulturstaat", Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die hier vorzustellende Biographie basiert auf einer Rostocker Habilitationsschrift. Sie zeichnet das Leben eines Spitzenbeamten des spätwilhelminischen Deutschland nach, der kurzzeitig in höchste Ämter gelangte, dessen Name aber heute meist nur noch Spezialisten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs oder zur Kriegsernährungswirtschaft vertraut ist.

Der 1857 geborene Georg Michaelis begann seine Karriere im preußischen Justizdienst. Nach kurzer Tätigkeit in der Staatsanwaltschaft bekam er 1885 die Chance, als Dozent nach Japan zu gehen und konnte bei der Rückkehr in die Verwaltungslaufbahn wechseln. Als fleißiger Arbeiter und sehr fähiger Organisator stieg er über Posten in Regierungs- und Oberpräsidien bis zum Unterstaatssekretär im preußischen Finanzministerium auf. Hierhin war der bis dahin mit Finanz- und Steuerfragen nur wenig vertraute Beamte 1909 von seinem Jugendfreund, dem Finanzminister Georg Freiherr von Rheinbaben, berufen worden. Michaelis arbeitete sich mit großem Elan in die neuen Aufgaben ein. Ohne Erfahrungen in der Land- und Ernährungswirtschaft zu besitzen, kam er nun mit den deutschen Planungen zur wirtschaftlichen Kriegsvorbereitung in Berührung. Schon bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirkte er beim Aufbau der Kriegsernährungswirtschaft mit und übernahm zentrale Aufgaben an der Spitze der Kriegsgetreidegesellschaft, der Reichsgetreidestelle bzw. als Reichskommissar für Brotgetreide und Mehl sowie als Preußischer Staatskommissar für Volksernährung. Trotz dieser exponierten Ämter war er kein bekannter Politiker, und es war für die breite Öffentlichkeit sehr verwunderlich, dass er am 14. Juli 1917 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt wurde. Politischen Erfolg hatte er nicht: Nach nur 14 Wochen nahm Michaelis am 1. November den Abschied – den Posten als Oberpräsident von Pommern gab er im Gefolge der Novemberrevolution zum 1. April 1919 auf und schied endgültig aus dem Staatsdienst aus.

In den verbleibenden knapp 20 Lebensjahren fasste er seine Memoiren 1 sowie einige Rechtfertigungsschriften ab. Außerdem engagierte er sich für die christliche Studentenbewegung, für die Entwicklung eines ökologischen Landbaus im Zusammenhang mit lebensreformerischen Ideen sowie für pietistisch-missionarische Bestrebungen. Dabei blieb Michaelis immer auch ein politisch handelnder Zeitgenosse. Er engagierte sich für die Deutschnationale Volkspartei, trat 1930 in die nur kurze Zeit bestehende Konservative Volkspartei ein und schwenkte bereits 1933 zur NSDAP über. Ein Jahr vor seinem Tod trat er als Vorsitzender des Kircherates der Kirchengemeinde Bad Saarow (bei Berlin) in die Partei ein – „ein unwürdiges Lebensende“.2

Diese bisher „vergessene“, widersprüchliche historische Persönlichkeit gleichsam entdeckt zu haben, ist das große Verdienst von Bert Becker. Er hat nicht nur mehr als 30 Archive besucht, sondern auch eine beeindruckende Menge von Quellenschriften und Sekundärwerken ausgewertet (vgl. das Literaturverzeichnis S. 827–851). Mit überreichem Material wird so der Lebensweg von Georg Michaelis bis in alle seine Verästelungen nachgezeichnet. Der nicht verwunderliche Umstand, dass für bestimmte Lebensstationen die Quellenlage schlechter ist als für andere, verführt Bert Becker in einigen Fällen dazu, fehlendes biographisches Material durch allgemeine Schilderungen zu ersetzen. So treten an die Stelle von Ausführungen zur individuellen Mitgliedschaft im Studenten-Corps Plavia die typischen Stationen vom Fuxx zum Alten Herrn „ganz allgemein“ (S. 46). Hier und in einigen anderen Stellen des „Wälzers“ wäre eine Straffung des Textes durchaus möglich gewesen. Doch auch solche Passagen, die sich vom Hauptstrang der Lebenserzählung weit entfernen, sind noch gut lesbar.

Insgesamt entwirft Becker ein beeindruckendes, in einzelnen Passagen spannendes Panorama von der Lebens- und Arbeitswelt eines Vertreters der so oft beschworenen preußisch-deutschen Beamtenschaft, über deren kollektives amtliches Wirken, also die preußisch-deutsche Politik, wir ziemlich gut unterrichtet sind, deren individuelle Handlungen und Beweggründe jedoch meist im Dunkeln der Geschichte bleiben. Becker kann durch eine erstmalige systematische Auswertung nicht nur der Veröffentlichungen von und über Michaelis, sondern auch der für lange Zeiträume überlieferten Notizbücher und vor allem sogenannter Familienrundbriefe ganz wesentliche Einblicke in das Selbstverständnis und die Motive des Protagonisten geben. Dies ist umso wichtiger, als der tiefgläubige Michaelis sich bis zum Alter von Anfang/Mitte 40 von der Amtskirche entfernt hatte. Zusammen mit seiner Frau war er der pietistisch geprägten Gemeinschaftsbewegung beigetreten. Der Beamte schied weitgehend aus dem gesellschaftlichen Leben, engagierte sich dafür in missionarisch-sozialen Projekten der „Reich-Gottes-Arbeit“ und suchte in persönlichen Notizen sowie in Äußerungen gegenüber engsten Vertrauten aber auch in den Rundbriefen mit Glaubensbekenntnissen und Bibelzitaten sein Handeln zu erklären. So sei der letzte Anstoß zur Annahme der Reichskanzlerschaft durch den Bibelspruch des Tageskalenders der Brüdergemeinde gegeben worden (S. 363). Mag dies einem Atheisten auch befremdlich anmuten, so ist es das Verdienst von Becker, einen tiefen Einblick in die Mentalität eines wichtigen Vertreters der preußisch-deutschen Verwaltungselite der spätwilhelminischen Zeit zu geben und dabei in keiner Weise die Quellenkritik außer Acht gelassen zu haben, indem für die einzelnen Lebensstationen „harte Fakten“ von subjektiven Wertungen getrennt und aneinander gemessen werden.

Ohne detailliert der ausufernden Darstellung Beckers folgen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass die Monographie über das Biographische hinaus auf mehreren Gebieten wichtiges neues, die weitere Forschung anregendes Material bietet. Das gilt erstens für die Ausführungen zur Kriegsernährungswirtschaft, bei der die enge Verflechtung der Versorgungslage in Deutschland mit der in den okkupierten Territorien und bei den Verbündeten nicht nur detailreich beschrieben wird, sondern die aktive Einflussnahme der deutschen Bürokratie auf die Besatzungsbehörden und die Regierungen der auf der Seite Deutschlands kämpfenden Staaten herausgearbeitet wird (z.B. S. 303ff., 313ff.). Zweitens beschränkt sich Becker nicht auf eine minutiöse Darstellung der Zeit von Michaelis als Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten, sondern schließt umfangreiche Ausführungen zur Historiographie über die Friedensresolution des Reichstags und die Friedensbemühungen des Vatikans an. Das geht bis zu den in das Jahr 1979 reichenden Bemühungen des um das Bild seines Vaters in der Geschichtsschreibung kämpfenden Sohns Wilhelm Michaelis (S. 478). Drittens verdienen die Ausführungen zur christlichen Studentenbewegung, die Michaelis als Vorsitzender der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung von 1913 bis 1917 und dann von 1918 bis 1928 wesentlich prägte, auch dahingehend starke Beachtung, dass sie die zeitweise katastrophale soziale Lage der Studierenden nach dem Weltkrieg und die zahlreichen Hilfsprojekte in das Blickfeld wissenschafts- und bildungshistorischer Arbeiten rücken können. Viertens schließlich erweitern die Ausführungen zur sozial- und lebensreformerischen Tätigkeit nach 1919 die Kenntnisse über die Vorgeschichte des in der Gegenwart so bedeutsamen ökologischen Gedankenguts. Sie bieten Anregungen, bereits in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts begonnene Projekte und Ideen, die durch Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau in beiden deutschen Staaten in Vergessenheit geraten waren, auf ihre heutige Relevanz zu prüfen.

Angesichts des hohen Lobes, das der Studie von Bert Becker zu zollen ist, soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Benutzung des voluminösen Bandes leider durch die drucktechnische Gestaltung und Gliederung in zweierlei Hinsicht behindert wird: Erstens zwingt die Trennung des Textes von den Anmerkungen und deren separater Druck (S. 750–803) zum ständigen Umblättern. Zweitens verärgert die Unsitte, auch längere Passagen zum Teil über mehrere Absätze mit nur einer abschließenden Anmerkungsziffer zu versehen und dann in der Endnote in der Regel ohne nähere Charakteristik Autorennamen ohne Buch- oder Aufsatztitel und mit Seitenzahl bzw. oft nur „reine“ Archivsignaturen aufzulisten. Das erschwert die Identifikation von Zitatbelegen und ihre Scheidung von allgemeinen Quellenverweisen.

Anmerkungen:
1 Michaelis, Georg, Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte, Berlin 1922.
2 Rudolf Morsey in seiner Rezension zum vorliegenden Band „Fromm und schneidig in der Wilhelmstraße. Der längst vergessene 14-Wochen-Reichskanzler Georg Michaelis war ein tatkräftiger Organisator und erfolgreicher Reformer“, in: FAZ 257, 5.11.2007, S. 9.